Konkurrenz um die Kanzlerschaft
Personalisierung im Kampf ums Kanzleramt 2021
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Der Ausgang von Wahlen wird häufig auch dadurch entschieden, wer politischen Botschaften ein „Gesicht“ gibt. Obwohl sie formal nicht notwendig sind, spielen die Spitzenkandidatinnen und Spitzenkandidaten um das Kanzleramt in der Bundestagswahl eine entscheidende Rolle. Die Personalisierung von Wahlkämpfen ist schon seit Längerem Gegenstand politikwissenschaftlicher Untersuchungen.
In ihrem Beitrag (Stand: Mai 2021) beleuchtet Andrea Römmele, wie Wahlkämpfe, Wahlentscheidungen und Berichterstattungen zur Wahl immer mehr auf Personen zugeschnitten werden. Der mögliche Erfolg lässt sich dabei vor allem aus dem „Dreiklang aus Spitzenkandidatin bzw. Spitzenkandidat, Programm und Partei“ ableiten.
Da in dieser Bundestagswahl erstmals drei statt zwei Kandidierende zur engeren Wahl stehen, stellt sich die Frage von Stärken und Schwächen der einzelnen Personen umso stärker. Wie bewerten die Anhängerschaft und unentschlossene Wählerinnen und Wähler die drei Kandidierenden? Und welche Themen und Medien sind entscheidend für die jeweilige Wahrnehmung?
Zur Autorin
Andrea Römmele ist Dean of Executive Education und Professor of Communication in Politics and Civil Society an der Hertie School. Ihr Forschungsinteresse gilt den Themen vergleichende politische Kommunikation, politische Parteien und Public Affairs. Andreas Römmele ist darüber hinaus auch Beraterin für politische Kampagnen und Unternehmenskampagnen.
Vorabveröffentlichung aus der Zeitschrift Bürger & Staat
Das B&S-Heft „Bundestagswahl 2021“ erscheint im August 2021
Stand des Textes: Mai 2021 | Aufbereitete Onlineversion durch die Internetredaktion der LpB BW.
Personen oder Themen
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In Deutschland haben Wählerinnen und Wähler keinen unmittelbaren Einfluss darauf, wer ins Kanzleramt einzieht. In parlamentarischen Demokratien wird die Regierungschefin oder der Regierungschef nicht direkt gewählt. Dennoch sind es diejenigen, die dieses Amt anstreben, die in der Beobachtung die Wahlkämpfe prägen. Sie haben die höchsten Bekanntheitswerte, sind die gefragtesten Gesprächspartner in den Medien und – zumindest in pandemiefreien Zeiten – diejenigen, die die Marktplätze füllen. Auf dem Wahlzettel tauchen sie aber nur bei den Allerwenigsten auf. Und wer ihnen eine Stimme geben kann und sich auch dazu entschließt, bringt sie nicht automatisch der Kanzlerschaft näher, sondern zunächst „nur“ einem Mandat. Auch gilt dabei, dass die „entscheidende“ Stimme nicht die Erststimme, die wir einer Abgeordneten oder einem Abgeordneten geben, ist, sondern die Zweitstimme, bei der wir uns zwischen Parteien entscheiden.
Die politische Konkurrenz in Deutschland soll über Parteien und nicht Personen ausgefochten werden. Themen und Programme der Parteien sollen im Mittelpunkt der Wahlentscheidung stehen. Kanzlerkandidatinnen und Kanzlerkandidaten sind formal nicht einmal notwendig. Sie werden weder in der Verfassung noch im Wahlrecht beschrieben. Wahlen können abgehalten werden, ohne dass eine Partei jemanden dazu gekürt hätte. „Es handelt sich hier um eine politische Kunstfigur, die im Bundestagswahlkampf 1961 von der SPD ins Leben gerufen wurde“ (Schmitt-Beck 2011: 200).
Themen sind immer mit Köpfen verknüpft
Doch ihre Etablierung macht durchaus Sinn. Denn die Trennung zwischen Programm und Personal lässt sich nicht durchhalten. Themen sind immer mit Köpfen verknüpft. Wie sollte politische Kommunikation auch stattfinden, wenn nicht transportiert über Personen? Und wer würde von politischen Amtsträgern erwarten, dass sie quasi austauschbar sind, damit sie für die Wahlentscheidung keine Rolle spielen?
Gerade wenn es um die Besetzung von Spitzenpositionen geht, sind nicht nur die Vorhaben entscheidend, sondern auch wem man zutraut, sie tatsächlich umzusetzen. Bei der Bundestagswahl 2021 wird dies aller Voraussicht nach eine noch größere Rolle spielen.
Die Kür von Annalena Baerbock zur Kanzlerkandidatin der Grünen und insbesondere die offen ausgetragene Auseinandersetzung um den Anspruch, die Union als Kanzlerkandidat in den Wahlkampf zu führen, haben bereits mehr als deutlich werden lassen, welche Bedeutung Personen auch in unserer Parteiendemokratie zukommt. Andernfalls wäre es schwer erklärbar, mit welcher Vehemenz sich viele den unterlegenen Markus Söder wünsch(t)en, bevor überhaupt ein Wahlprogramm feststand. Die SPD hat Olaf Scholz zwar ohne Duell und ohne viel Aufhebens zum Kanzlerkandidaten ernannt, aber dadurch, dass in diesem Jahr eine Kandidatin und zwei Kandidaten um den Führungsanspruch in Deutschland streiten, erhöht sich der Druck im Kampf um Aufmerksamkeit enorm und zwingt sie zu noch mehr Profilierung.
Erst ein erkennbares Profil aufbauen
Ebenfalls dazu beitragen wird, dass die amtierende Kanzlerin Angela Merkel nicht erneut zur Wahl stehen wird. Im Vergleich zu ihr haben die jetzigen Kandidierenden geringe Bekanntheitswerte und müssen erst ein erkennbares Profil aufbauen, das die Wählerinnen und Wähler mit ihnen verknüpfen können. Für sie alle wird es darum gehen, möglichst authentisch aufzutreten. Das bedeutet nicht, sich so zu geben wie man ist, sondern glaubhaft darzustellen, dass man eine geeignete Führungsperson ist, deren Rolle man in jeder Situation authentisch ausfüllen kann. Mit ihr identisch werden, muss man dafür nicht.
Die sozialwissenschaftliche Forschung rund um Wahlkämpfe und Kampagnen beschäftigt sich schon länger mit Personalisierung(en). Im Folgenden soll daher zunächst der Begriff der Personalisierung genauer beleuchtet werden. Anschließend werden die drei für das Kanzleramt Kandidierenden genauer betrachtet.
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Was versteht man unter Personalisierung?
In den Sozialwissenschaften wird Personalisierung entlang von drei Dimensionen diskutiert: (1) die Personalisierung der Wahlkampfführung, (2) die Personalisierung des Wahlverhaltens und schließlich (3) die Personalisierung der Medienberichterstattung über Wahlkämpfe (Brettschneider 2002; Kriesi 2011; Römmele 2005).
Personalisierung des Wahlkampfs
Personalisierung des Wahlkampfs
Personalisierung in der Wahlkampfführung manifestiert sich in erster Linie in der zunehmenden Bedeutung der Kandidatinnen und Kandidaten im Vergleich zu den Parteien. Zwar lassen sich beide letztendlich nicht unabhängig voneinander denken, aber heruntergebrochen lässt sich konstatieren, dass auch die Wahlkampfzentralen der Parteien das Spitzenpersonal ganz bewusst in den Vordergrund rücken. Beobachten können wir das schon seit Langem. Wie bereits beschrieben, zog die SPD 1961 erstmals mit einem Spitzenkandidaten in den Wahlkampf und damit deutlich bevor unter dem Stichwort der „Amerikanisierung“ diskutiert wurde, ob Personalisierung ein aus der Kampagnenführung in den USA stammender Trend wäre. Zwar stimmt es, dass im präsidentiellen System der USA, wo die Wahlen traditionell in erster Linie Personenwahlen sind, die Kandidatinnen und Kandidaten eine zentrale Rolle spielen, aber schnell lassen sich ebenfalls Beispiele dafür in anderen parlamentarischen Demokratien und auch hierzulande finden.
„Auf den Kanzler kommt es an“ war das Wahlmotto der CDU 1969 mit dem damals amtierenden Kanzler Kurt Georg Kiesinger; 1972 hieß es, den „Kanzler für Deutschland“ wählen; 1976 „Zieh mit, wähl Schmidt“ (Müller 1999). Erfolgreich bestritt Helmut Kohl 1990 als „Kanzler der Einheit“ den Bundestagswahlkampf. Gerhard Schröders Plakate 1998 signalisierten „Ich bin bereit“, und 2002 blickte Schröder als „Kanzler der Mitte“ aus den Wahlplakaten. Übrigens ist diese Strategie auch auf Länderebene sehr sichtbar – die Wahlkämpfe der Grünen und Baden-Württemberg und der SPD in Rheinland-Pfalz im März 2021 waren wie nie zuvor auf den Spitzenkandidaten Winfried Kretschmann und die Spitzenkandidatin Marie-Luise „Malu“ Dreyer ausgerichtet. Auch Angela Merkel, die die großformatige Inszenierung nur bedingt pflegte, ließ den Wahlkampf ihrer Partei immer stärker auf sich selbst ausrichten, je länger sie an der Macht war. Gewaltige Plakate mit der von ihr geprägten „Merkel-Raute“ und insbesondere der Wahlkampfslogan „Sie kennen mich“ können als Paradebeispiele für hochgradig personalisierte und gleichzeitig von Inhalten entkernte Kampagnenformate betrachtet werden. Die Bedeutung, die dem richtigen Spitzenpersonal für erfolgreichen Wahlkampf zugesprochen wird, hat wohl niemand so treffend zusammengefasst wie der Ministerpräsident aus Sachsen-Anhalt, Reiner Haseloff, als er für Markus Söder als Kanzlerkandidaten der Union plädierte: „Es geht nicht um persönliche Sympathie, Vertrauen oder Charaktereigenschaften. Es hilft nichts, wenn jemand nach allgemeiner Überzeugung absolut kanzlerfähig ist, aber dieses Amt nicht erreicht, weil die Wählerinnen und Wähler ihn nicht lassen“.
Dieses Verständnis von Spitzenpersonal ist gefährlich, da es den Kandidierenden gegenüber der Partei und ihren Inhalten überhöht. Das kann zwar Wahlerfolg bringen, aber ebenfalls das Profil einer Partei zerstören und sie völlig auf den Kandidierenden ausrichten, wie dies Sebastian Kurz in Österreich mit der FPÖ gelang. Politikerinnen und Politiker, die einen personalisierten Wahlkampf führen und gewählt werden, tendieren dazu, sich auch bei Abstimmungen weniger parteiorientiert zu verhalten und häufig abweichende Entscheidungen zu treffen (Zittel/Nyhuis 2021). Die enorme Zugkraft, die eine Spitzenkandidatin oder ein Spitzenkandidat entwickeln kann, hat dazu geführt, dass auch kleine Parteien sie bestimmen, obwohl sie keinerlei Aussicht auf die Kanzlerschaft haben. Sie sollen das Gesicht zum Angebot des Programms der Partei sein. Es ist deutlich einfacher, eine charismatische Person im Gedächtnis zu behalten, als die Positionen einer Partei in den unterschiedlichen Politikfeldern. Daher werden auch die FDP mit Christian Lindner, die Linkspartei mit Janine Wissler und Dietmar Bartsch und die AfD mit Alice Weidel und Tino Chrupalla in den Wahlkampf ziehen.
Stimmt der Dreiklang aus Spitzenkandidatin bzw. Spitzenkandidat, Programm und Partei und lassen sich konsistent, gewissermaßen „wie aus einem Guß“ präsentieren, dann sind die Chancen auf Erfolg besonders hoch.
Personalisierung der Wahlentscheidung
Personalisierung der Wahlentscheidung
Die zweite Dimension des Personalisierungsbegriffs ist die des Wählerverhaltens. In der Regel werden hierunter zwei Tendenzen erfasst: Zum einen sei das individuelle Wählerverhalten immer stärker von den Einstellungen zu den Spitzenkandidatinnen und Spitzenkandidaten beeinflusst als von politischen Sachpositionen. Zum anderen würden Kandidierende mehr und mehr aufgrund ihrer unpolitischen Persönlichkeitsmerkmale beurteilt (u. a. Karvonen 2010; McAllister 2007; Lass 1995; Brettschneider 2002; Klein/Ohr 2001).
Gerade Personen, die nur über geringes politisches Wissen und Interesse verfügen, können einfacher Präferenzen hinsichtlich unterschiedlicher Kandidatinnen und Kandidaten bilden, als hinsichtlich der Angebote verschiedener politischer Parteien. Aufgrund der in den letzten Jahrzehnten massiv nachlassenden Parteibindung (Dalton 2011) rücken diese Kandidateneigenschaften vermehrt in den Vordergrund. Dann gilt es nicht mehr mit den besten Ideen zu überzeugen, sondern damit, dass man eine Persönlichkeit ist, die für die Herausforderung geeignet ist. Wie man sie angehen würde, wird dann zweitrangig.
Das sozialpsychologische Modell der Wahlforschung hat drei Faktoren identifiziert, die die Wahlentscheidung maßgeblich beeinflussen: die Parteiidentifikation, Themen und Kandidatinnen/Kandidaten. Dieses Modell wurde von amerikanischen Kollegen Ende der 1950er Jahre entwickelt und wird häufig als Ann-Arbor-Modell oder Michigan-Modell in der Literatur aufgeführt (Campbell et al. 1960).
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Lange Zeit galt die Parteiidentifikation als die das Wahlverhalten am stärksten beeinflussende Variable, flankiert von den im Vergleich weniger wichtigen Variablen Themen und Personen. Im Sozialisationsprozess erworben und durch Wahlen immer wieder aktualisiert, wirkt die Parteiidentifikation dabei wie ein Filter, der Wahrnehmung und Bewertung politischer Themen und Ereignisse strukturiert. Makropolitisch bildet die Parteiidentifikation eine wichtige Voraussetzung politischer Stabilität. Das Sinken der Parteienbindung macht die Kandidatinnen und Kandidaten umso entscheidender bei der Wahlentscheidung. Das gilt nicht nur bei hohen Sympathiewerten, sondern es gibt auch einen negativen Zusammenhang, bei einer Ablehnung des politischen Spitzenpersonals einer Partei (Garzia/Ferreira da Silva 2021).
Der im unionsinternen Machtkampf um die Kanzlerkandidatur unterlegene Markus Söder gilt als besonders begabt darin, seine Person zu inszenieren und in Umfragen davon zu profitieren. Programmatisch ist er eigentlich sogar verhältnismäßig schwer zu fassen, da seine politische Karriere von einigen, teilweise einschneidenden Politikwechseln begleitet wird. Aufgrund seines Auftretens und der Inszenierung von sich als volksnahem, modernem und in der Bevölkerung beliebtem Ministerpräsidenten, sind seine Sympathiewerte dennoch sehr hoch. Zu seiner Strategie gehört es auch Formate zu bedienen, die der politischen Debatte unverdächtig sind. So gab Söder im Mai der Boulevardzeitung „Bunte“ ein Interview, in dem er vor allem von seinen Fähigkeiten am Grill berichtete (Die Bunte 2021). Zwar unterlag er im Machtkampf mit Armin Laschet, aber dass er es geschafft hat, in der sonst so disziplinierten Union überhaupt einen Machtkampf gegen den frisch gewählten Parteivorsitzenden zu eröffnen, ist bereits bemerkenswert.
Personalisierung der Berichterstattung
Personalisierung der Berichterstattung
Die dritte Dimension des Personalisierungsbegriffes richtet sich auf die Personalisierung der Medienberichterstattung. Für manche Beobachtende werden Wahlkämpfe zunehmend zu „themenlosen Personalplebisziten“ (Sarcinelli 1987: 166), zu einer Show ohne Inhalt. Eine zunehmende Fokussierung auf die Spitzenpolitikerinnen und Spitzenpolitiker, und hier in erster Linie die Ministerinnen und Minister als Fachvertreter, ist ein zentrales Ergebnis in der Forschung rund um die mediale Berichterstattung (Römmele 2005: 428). Bestimmte Fernsehformate – allen voran die mittlerweile schon traditionell stattfindenden TV-Duelle – lassen punktuell die Spitzenkandidatinnen und Spitzenkandidaten in den Medien besonders hochleben. In den USA gehören TV-Duelle seit den legendären Kennedy-Nixon-Debatten 1960 zum nicht mehr wegzudenkenden Inventar. Sie sind mediale Höhepunkte eines jeden amerikanischen Wahlkampfes.
In Deutschland kennen wir diese Form des inhaltlichen Schlagabtausches seit 2002. Gerhard Schröder und Edmund Stoiber lieferten sich zwei verbale Duelle vor der Bundestagswahl – und mittlerweile sind TV-Duelle fester Programmpunkt sowohl auf Bundes- als auch auf Länderebene. Dies verwundert auch nicht, denn das Format passt exzellent in die mediale Nachrichtenwertlogik: Duelle liefern Konflikte, sind pointiert und werden präsentiert wie Sportereignisse: Politikerinnen und Politiker „führen“, „holen auf“, „punkten“, „liefern sich Steilvorlagen“ usw. (Brettschneider 2008). Aber auch den Wahlberechtigten kommt dieses Format entgegen: In 90 Minuten werden ihnen die wichtigsten Themen, Positionen und Unterschiede von Seiten der Spitzenkandidaten präsentiert. Studien weisen darauf hin, dass „TV-Debatten durchaus in der Lage sind, das Bild, das die Wähler von ihnen haben […] zu beeinflussen. Gelingt es ihnen zudem, die Debatte (aus Sicht der Zuschauer) zu gewinnen, schlägt sich dies positiv auf das individuelle Wahlverhalten nieder“ (Maier/Faas 2011: 229; Maier et al. 2013), auch wenn die Effekte nicht lange anzuhalten scheinen (Lindemann/Stoetzer 2021).
Einen enormen Bedeutungszuwachs haben die sozialen Medien erfahren. Die Kommunikation auf Twitter, Facebook oder auch Instagram gehört mittlerweile nicht nur für Parteien, sondern gerade für die einzelnen Politikerinnen und Politiker zum festen Repertoire. Dadurch verstärkt sich die politische Kommunikation einzelner Politikerinnen und Politiker, die unabhängig von ihren jeweiligen Parteien stattfindet. Mehr als 75 Prozent der Abgeordneten des Bundestages pflegen beispielsweise einen Twitter-Account (Faus/Schulz 2020). Die Bedeutung des Internets als zentrale Informationsquelle steigt an und Politikerinnen und Politiker erhalten hier die Möglichkeit, mit Wahlberechtigten direkt in den Kontakt zu treten und sich jenseits von Partei- und Medienlogiken selbst zu präsentieren. Dadurch gewinnt die einzelne Persönlichkeit weiter an Relevanz.
Dreikampf ohne Amtsinhaberin – Die Kanzlerkandidaten 2021
Stand: Mai 2021
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Betrachten wir die Ausgangslage für den diesjährigen Bundestagswahlkampf, dann stolpert man zunächst über das angekündigte „TV-Triell“. Das übliche Duell fand bislang zwischen Herausforderer und Amtsinhaber statt. In diesem Jahr haben es sich aber drei Parteien zum Ziel gesetzt, das Kanzleramt zu erobern. Alle drei gehen mit unterschiedlichen Startvoraussetzungen in den Wahlkampf und alle drei werden sich im Laufe ihrer jeweiligen Kampagnen unterschiedlichen Herausforderungen gegenübersehen. Sowohl ihre Parteien als auch sie selbst verzeichnen gute vier Monate vor der Wahl sehr unterschiedliche Umfragewerte. Nehmen wir nun die bereits genannte Prämisse, dass zum Wahlerfolg eine konsistente Kombination aus Spitzenkandidatin bzw. Spitzenkandidat, Programm und Partei notwendig ist, lassen sich ihre jeweiligen zentralen Herausforderungen abstrahieren. Zentrale Frage der nächsten Wochen und Monate wird die Personalfrage sein. Die Amtsinhaberin tritt nicht mehr an, was unweigerlich die Eignung der Kandidierenden in den Vordergrund rückt, da keiner von ihnen sie bereits unter Beweis gestellt hat.
Olaf Scholz
Die schwierige Verbindung zwischen Programm und Kandidat
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Die SPD hat ihren Kanzlerkandidaten deutlich früher als die anderen Parteien präsentiert. Anders als bei Union und Grünen gab es auch keine – mal mehr, mal weniger vehement geführte – Auseinandersetzung um die Kandidatur. Nachdem die SPD lange Zeit immer diejenige Partei war, bei der stets nur ein Burgfrieden zu herrschen schien, gelang die Präsentation von Olaf Scholz beinahe erfrischend unspektakulär und innerparteilicher Widerstand blieb aus. Dies mochte zunächst verwundern, nachdem die Parteivorsitzenden Saskia Esken und Norbert-Walter Borjans, die die Entscheidung trafen, sich im Kampf um den Parteivorsitz als deutlich weiter links stehende Alternative gegen Olaf Scholz durchgesetzt hatten. Dafür ist ihre Handschrift im vorliegenden Wahlprogramm mehr als erkennbar (SPD 2021).
Dies mag auf den ersten Blick nach einem gelungenen Kompromiss aussehen, stellt Scholz und die SPD aber vor große Schwierigkeiten, das Programm und den Kandidaten miteinander zu verbinden. Das Programm ist, nach den Jahren in der großen Koalition, deutlich weiter links als in den vergangenen Jahren. Olaf Scholz ist, als langjähriges Mitglied der Regierung der großen Koalition und als bekanntermaßen nicht dem linken Flügel zuzurechnender Genosse, nicht gerade prädestiniert dazu, ein solches Programm zu verkörpern. Beispielhaft sei hier erwähnt, dass das Programm eine Abkehr von Hartz-IV fordert, bei dessen Verabschiedung Scholz als Generalsekretär an Gerhard Schröders Seite stand und später als Arbeitsminister in der ersten Koalition unter Angela Merkel implementierte. Auch bei anderen Punkten wird er erst noch beweisen müssen, dass er sie glaubwürdig vertritt.
Armin Laschet
Die schwierige Verbindung zwischen Kandidat und Partei
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Armin Laschet ist sicherlich der Kandidat, der bereits die größten Schwierigkeiten überwinden musste, bevor der Wahlkampf überhaupt losging. Zunächst die Auseinandersetzung um den Parteivorsitz, dann der plötzliche Kampf um die Kanzlerkandidatur mit Markus Söder. Die Union arbeitet zwar noch an ihrem Parteiprogramm, aber Armin Laschet muss bereits für sich selbst kämpfen. Als erster Unionskandidat sind die Reihen hinter ihm nicht geschlossen, sondern er muss zunächst seine eigene Partei mobilisieren.
Armin Laschet hat dadurch einen enormen Druck zu beweisen, dass er der richtige Kandidat ist. Er kann sich nicht darauf konzentrieren, für „sein“ Programm zu werben, sondern wird immer wieder den Beweis antreten müssen, dass nicht Markus Söder, sondern er derjenige ist, der am besten dazu geeignet ist, es umzusetzen. Gewissermaßen kommt er gar nicht dazu, sich dem Land vorzustellen, da er noch viel zu sehr mit seiner eigenen Partei beschäftigt ist.
Annalena Baerbock
Entspannt zurücklehnen?
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Nun könnte man meinen, dass sich Annalena Baerbock entspannt zurücklehnen könnte. Olaf Scholz und die SPD liegen in den Umfragen weit zurück und Armin Laschet hat große Probleme, das Machtvakuum, das Angela Merkel in der Union hinterlässt, zu füllen. Die Grünen haben die Kandidatenfrage hingegen nicht nur beeindruckend still geklärt, sondern es scheint auch, als ob die eigentlich so streitfreudige Partei geschlossen hinter dem Vorhaben versammelt ist, die politische Führung in Deutschland zu übernehmen.
Auch innerhalb der Bevölkerung genießt Baerbock hohe Glaubwürdigkeitswerte (siehe Umfragen Stand Mai 2021). Der Entwurf des Wahlprogramms der Grünen ist insbesondere auf die Bekämpfung des Klimawandels ausgelegt. Die Grünen genießen bei diesem Thema die höchste Glaubwürdigkeit sowie Autorität, bespielen es am längsten und profitieren nun von der enormen Relevanz, die es auch in der breiten Bevölkerung erfährt.
Annalena Baerbock erfährt dafür aber auch am deutlichsten die Schattenseiten einer zunehmenden Polarisierung und wird selbst vermehrt Ziel von Attacken. Ihr wird die Eignung zur Kanzlerin aufgrund von fehlender Regierungserfahrung abgesprochen und sie wird dafür kritisiert, sich für das Amt zu bewerben, obwohl sie Kinder hat. Gerade letzteres Argument befindet sich völlig abseits der politischen Sphäre. Zuletzt sah sie sich gezwungen, ihren Bildungsweg anhand von Zeugnissen nachzuweisen und sich so gegen Vorwürfe zu wehren. Etwas, das in US-amerikanischen Wahlkämpfen schon beinahe ritualisiert ist, aber in Deutschland eine unrühmliche Besonderheit darstellt.
Fazit
Alle drei für das Kanzleramt Kandidierenden werden in den nächsten Monaten ganz besonders im Fokus stehen und versuchen sich selbst zu profilieren. Die mediale Berichterstattung wird zunehmen und es bleibt spannend abzuwarten, ob es bei einem Triell bleibt, oder (sich) jemand endgültig aus dem Feld möglicher neuer Kanzler und Kanzlerinnen entfernt (wird). Nach 16 Jahren unter Angela Merkel, den enormen Belastungen durch die Corona-Pandemie und den Herausforderungen, vor die uns der Klimawandel stellt, herrscht in Deutschland ein Mix aus Wechselstimmung, Bedürfnis nach politischer Führung und Polarisierung. Dazu kommt ein Wahlkampf unter Corona-Bedingungen.
Der vergangene Wahlkampf in den USA und die letzten Landtagswahlen hier haben gezeigt: campaigns do matter! Wahlkämpfe machen einen Unterschied – aber sie müssen auch richtig geführt werden. Man braucht die richtige Strategie, ein überzeugendes Narrativ, eine wirkungsvolle Mobilisierung – und daher gilt auch für diesen September: Noch ist alles offen. Die grobe Marschrichtung steht, aber Kampagnenarbeit ist immer von Überraschungen geprägt. Wenig überraschend dürften die Spitzenkandidatinnen und Spitzenkandidaten die zentralen Figuren dabei werden. Zwar haben wir bei dieser Wahl besondere Faktoren, die die Personalisierung zusätzlich befeuern, aber auch bei zukünftigen Wahlen wird sich daran nichts ändern.
Neueste Forschungen zeigen in ganz Europa einen Zusammenhang zwischen der sinkenden Parteizugehörigkeit und der zunehmenden Personalisierung in der Politik auf (Garzia et al. 2021) und diese Entwicklung ist noch nicht vorbei. Politiker wie Emmanuel Macron in Frankreich oder Sebastian Kurz in Österreich fordern das klassische Verhältnis von Kandidierenden und Parteien sowie die Bedeutung von Persönlichkeiten für den politischen Betrieb erfolgreich heraus. Eine Entwicklung, die (Parteien)Demokratien gefährlich werden kann. Einfach aufhalten wird sie sich nicht lassen. Umso wichtiger wird es sein, sie weiterhin genau zu beobachten.
Literatur
Literatur
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- Brettschneider, Frank (2008): Horse Race Coverage. In: Donsbach, Wolfgang (Hrsg.): Encyclopedia of Communication. Malden, S. 2137–2139.
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- Dalton, Russell/McAllister, Ian/Farrell, David (2011): Political Parties and Democratic Linkage. How Parties Organize Democracy. Oxford.
- Die Bunte (2021): Ausgabe vom 12.05.2021.
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- Garzia, Diego/Ferreira da Silva, Frederico (2021): Negative personalization and voting behavior in 14 parliamentary democracies, 1961–2018. In: Electoral Studies 71.
- Garzia, Diego/Ferreira da Silva, Frederico/De Angelis, Andrea (2021): The personalisation of politics: Why political leaders now lie at the heart of European democracy. [09.06.2021].
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- Klein, Markus/Ohr, Dieter (2001): Die Wahrnehmung der politischen und persönlichen Eigenschaften von Helmut Kohl und Gerhard Schröder und ihr Einfluss auf die Wahlentscheidung bei der Bundestagswahl 1998. In: Klingemann, Hans Dieter/Kaase, Max (Hrsg.): Wahlen und Wähler. Analysen aus Anlass der Bundestagswahl 1998. Wiesbaden, S. 91–132.
- Kriesi, Hanspeter (2011): Personalization of National Election Campaigns. In: Party Politics, Heft 1/2011, S. 1–20.
- Lass, Jürgen (1995): Vorstellungsbilder über Kanzlerkandidaten. Zur Diskussion um die Personalisierung von Politik. Wiesbaden.
- Lindemann, Korinna/Stoetzer, Lukas F. (2021): The effect of televised candidate debates on the support for political parties. In: Electoral Studies, Volume 69.
- Maier, Jürgen/Faas, Thorsten (2011): Das TV-Duell 2009 – langweilig, wirkungslos, nutzlos? Ergebnisse eines Experiments zur Wirkung der Fernsehdebatte zwischen Angela Merkel und Frank-Walter Steinmeier. In: Heinrich Oberreuter (Ed.): Am Ende der Gewissheiten: Wähler, Parteien und Koalitionen in Bewegung. München, S. 147–166.
- McAllister, Ian (2007): The Personalization of Politics. In: The Oxford Handbook of Political Behavior 2007, S. 571–588.
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- Römmele, Andrea (2013): Konkurrenten um die Kanzlerschaft – Angela Merkel und Peer Steinbrück, in: Der Bürger im Staat, Heft 3/2013, S. 182–189.
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- Sarcinelli, Ulrich (1987): Symbolische Politik. Zur Bedeutung symbolischen Handelns in der Wahlkampfkommunikation in der Bundesrepublik Deutschland. Opladen.
- Schmitt-Beck, Rüdiger (2011): Spitzenkandidaten. In: Rattinger, Hans/Roßteutscher, Sigrid/Schmitt-Beck, Rüdiger/Wessels, Bernhard u. a.: Zwischen Langeweile und Extreme. Die Bundestagswahl 2009. Baden-Baden, S. 200–217.
- SPD (2021): Das Zukunftsprogramm – Wofür wir stehen. Was uns antreibt. Wonach wir streben. [09.06.2021].
- Zittel, Thomas/Nyhuis, Dominic (2021): The Legislative Effects of Campaign Personalization An Analysis on the Legislative Behavior of Successful German Constituency Candidates. In: Comparative Political Studies, Heft 54/2, S. 312–338.
Stand der Aktualisierung: Mai 2021 | Beitrag von Andrea Römmele, aufbereitet durch die Internetredaktion der LpB BW.