Wahlrechtsreform

Maximale Größe des Bundestags wird auf 630 Abgeordnete begrenzt

Das bundesdeutsche Parlament ist in den vergangenen Legislaturperioden stetig größer geworden. Aktuell sitzen 735 Abgeordnete im Plenum des Berliner Reichstagsgebäudes – statt der nominell vorgesehenen 598 Abgeordneten. Das hat nicht nur Konsequenzen für die Redezeit der bzw. des Einzelnen, sondern bedeutet auch höhere Kosten. Die Bundesrepublik Deutschland leistet sich nach dem Milliardenstaat China das zweitgrößte Parlament der Welt. Nachdem der Ruf nach einer Verkleinerung des Parlaments in den zurückliegenden Jahren immer lauter geworden war, verabschiedete der Bundestag 2023 mit der Mehrheit der Ampelkoalition schließlich ein neues Wahlrecht, das erstmals bei der Bundestagswahl 2025 zur Anwendung kommen wird.

Gemäß des neuen Wahlrechts werden ab der kommenden Legislaturperiode maximal 630 Abgeordnete im Bundestag sitzen. Ermöglicht wird dies über eine Änderung bei der Mandatsverteilung. Das System von Erst- und Zweitstimme bleibt zwar grundsätzlich erhalten, allerdings entscheidet fortan allein das Zweitstimmenergebnis darüber, wie viele Sitze einer Partei im Bundestag zustehen. Direktkandidaten ziehen nur dann in den Bundestag ein, wenn ihr Mandat durch das Zweitstimmenergebnis gedeckt ist. Überhangs- und Ausgleichsmandate entfallen. Ursprünglich beinhaltete die Wahlrechtsreform auch die Abschaffung der Grundmandatsklausel. Die Grundmandatsklausel sieht vor, dass eine Partei auch dann in den Bundestag einzieht, wenn ihr Zweitstimmenergebnis unter fünf Prozent liegt, sie aber mindestens drei Direktmandate gewinnen konnte. Die geplante Abschaffung der Grundmandatsklausel wurde im Juli 2023 durch das Bundesverfassungsgericht gekippt. Die Regelung hat somit auch weiterhin Bestand.

 

 

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Was sind die Ziele der Wahlrechtsreform?

Der zuletzt stark angewachsene Bundestag soll wieder kleiner werden und wird künftig die Zahl von 630 Mandaten nicht überschreiten. Zugleich sollen strukturelle Verzerrungen auch weiterhin vermieden werden. Jede Partei soll genau so viele Mandate erhalten, wie ihr gemäß des Zweitstimmenergebnisses zustehen.

Welche Veränderungen bringt die Wahlrechtsreform?

Das System der personalisierten Verhältniswahl mit einer Erststimme und einer Zweitstimme wird im Grundsatz beibehalten. Auch weiterhin haben die Wählerinnen und Wähler eine Erststimme, mit der sie für eine Kandidatin oder einen Kandidaten aus ihrem Wahlkreis abstimmen können, sowie eine Zweitstimme, die für die Landesliste einer Partei vergeben wird. Ausschlaggebend für die Zahl der Sitze im Bundestag ist künftig allerdings allein das Zweitstimmenergebnis einer Partei. Im Umkehrschluss bedeutet dies: Direktkandidaten, die über die Erststimmen im Wahlkreis gewählt wurden, ziehen nur dann in den Bundestag ein, wenn ihr Mandat durch das Zweitstimmenergebnis der jeweiligen Partei gedeckt ist. Direktkandidaten sind also nicht mehr automatisch gewählt, wenn sie in einem Wahlkreis die meisten Stimmen erhalten. Das Zweitstimmenergebnis entscheidet darüber, wie viele Mandate einer Partei tatsächlich zustehen.

Wie wird die Verkleinerung des Bundestags ermöglicht?

Bis zur Wahlrechtsreform zogen gewählte Direktkandidaten immer in den Bundestag ein – unabhängig vom Zweitstimmenergebnis ihrer Partei und eben sogar dann, wenn ihrer Partei das Mandat gemessen an ihrem Zweitstimmenergebnis eigentlich gar nicht zustand (man spricht in diesem Fall von Überhangsmandaten). Um in solchen Fällen eine Benachteiligung der anderen Parteien zu vermeiden, erhielten diese im Gegenzug Ausgleichsmandate. Die Ausgleichsmandate sorgten dafür, dass trotz der Überhangsmandate alle Parteien mit genau jener Zahl an Sitzen im Bundestag vertreten waren, die ihnen gemäß ihres Zweitstimmenergebnisses zustanden. Der Preis dieses Verfahrens war allerdings, dass der Bundestag zuletzt deutlich über seine nominell 598 Mandate anwuchs. Überhangs- und Ausgleichsmandate gibt es im neuen Wahlrecht nicht mehr.

Bringt die Wahlrechtsreform weitere Änderungen?

Ursprünglich beinhaltete die Reform auch eine Abschaffung der Grundmandatsklausel. Die Grundmandatsklausel sieht vor, dass eine Partei auch dann in den Bundestag einzieht, wenn ihr Zweitstimmenergebnis unter der Sperrklausel von fünf Prozent liegt, sie aber mindestens drei Direktmandate erringen konnte. 2021 profitierte von dieser Regelung die Linke, die mit einem Wahlergebnis von lediglich 4,9 Prozent aber drei gewonnenen Direktmandaten erneut in den Bundestag einzog. Die Abschaffung der Grundmandatsklausel wurde im Juli 2024 durch eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts allerdings vorerst gekippt.

Wie bewertet das Bundesverfassungsgericht die Wahlrechtsreform?

Im Juli 2024 erklärte das Bundesverfassungsgericht, dass das neue Zweitstimmendeckungsverfahren mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Gleichzeitig stellten die Verfassungsrichter fest, dass die Fünfprozent-Sperrklausel in ihrer derzeitigen Form gegen Art. 21, Abs. 1 sowie gegen Art. 38, Abs. 1 des Grundgesetzes verstoße. Die Sperrklausel sei „unter den geltenden rechtlichen und tatsächlichen Rahmenbedingungen“ nicht in vollem Umfang erforderlich, um die Arbeits- und Funktionsfähigkeit des Bundestages zu sichern. Unter der Maßgabe, dass die Grundmandatsklausel vorerst bestehen bleibt, darf auch die Fünfprozent-Sperrklausel ihre Gültigkeit bis auf Weiteres behalten. Allerdings erging mit dem Urteil zugleich der Auftrag an den Gesetzgeber, weitere Anpassungen am Wahlrecht vorzunehmen.

Die 5 %-Sperrklausel in § 4 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BWahlG verstößt derzeit gegen Art. 21 Abs. 1 und Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG. Bis zu einer Neuregelung gilt sie mit der Maßgabe fort, dass bei der Sitzverteilung Parteien mit weniger als 5 % der Zweitstimmen nur dann nicht berücksichtigt werden, wenn ihre Bewerber in weniger als drei Wahlkreisen die meisten Erststimmen auf sich vereinigt haben.

Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts nach dem Urteil zum Bundeswahlgesetz am 30. Juli 2024

Fällt die Fünfprozent-Hürde?

Das Bundesverfassungsgericht hält die Fünfprozent-Sperrklausel für nicht vereinbar mit den Art. 21, Abs. 1 und Art. 38, Abs. 1 des Grundgesetzes. Regelmäßig werden durch die Fünfprozenthürde bei Wahlen Millionen Wählerstimmen gewissermaßen „herausgefiltert“. Dies verstößt gegen die sogenannte Erfolgswertgleichheit von Wählerstimmen. Vor der Bundestagswahl 2025 sind allerdings keine Reformen mehr zu erwarten. Und auch für die Zeit danach erscheint fraglich, ob künftige Wahlrechtsanpassungen die Fünfprozenthürde kippen könnten. Denn während die weitere Zersplitterung des Parteiensystems ohnehin voranschreitet, könnte eine Abschaffung der Fünfprozenthürde die Arbeitsfähigkeit und Koalitionsbildungsmöglichkeiten des Parlaments zusätzlich erschweren.

Hintergrund: Wie und warum kam es zur Wahlrechtsreform?

Warum ist der Bundestag zuletzt so stark angewachsen?

Die steigende Zahl der Abgeordneten im Bundestag hängt zusammen mit einer Besonderheit des Wahlrechts, dem personalisierten Verhältniswahlrecht. Im Kern sind es zwei unterschiedliche Wahlmodelle, die hier vermischt werden: zum einen das Verhältniswahlrecht, das die Stärke der Parteien im Parlament abbildet. Dieses Verhältnis bestimmen die Wählerinnen und Wähler mit ihrer Zweitstimme. Zum anderen kommen Direktmandate hinzu, die die Gewinner:innen in den derzeit 299 Wahlkreisen erhalten. Über diese Direktmandate bestimmen die Bürgerinnen und Bürger mit ihrer Erststimme.

Wenn Parteien mehr Direktmandate gewinnen als ihnen nach der Zweitstimme zustehen, erhalten sie Überhangmandate. So wird sichergestellt, dass Kandidierende, die in ihrem Wahlkreis direkt gewählt werden, auf jeden Fall ins Parlament einziehen. Um das Verhältnis nicht zu verzerren, bekommen andere Parteien Ausgleichsmandate — und zwar so viele, bis das Verhältnis den Zweitstimmen gemäß wieder stimmt.

Ein Beispiel: Bei der Bundestagswahl 2017 kam es zu 46 Überhangmandaten. Um das Parteienverhältnis auszugleichen, wurden nochmals 65 Ausgleichsmandate den Parteien zugeordnet. Auf diese Weise ist das gegenwärtige Parlament um knapp ein Fünftel größer als die Mindestgröße. Wegen der 46 Überhangmandate 2017 (davon allein 43 für die Union), mussten für den jetzigen Bundestag entsprechend Ausgleichsmandate geschaffen werden: 19 Mandate für die SPD, 15 für die FDP, elf für die AfD, zehn für die Linke und zehn für Bündnis 90/Die Grünen.

Darüber hinaus wurde seit der Wahl 2013 ein neues Gesetz angewendet, was dazu führte, dass das Parlament noch größer wurde. 2008 hatte das Bundesverfassungsgericht das damalige Wahlrecht für verfassungswidrig erklärt. Der Grund war, dass durch das sogenannte „negative Stimmgewicht“ die Verteilung der Stimmen verzerrt werden konnte. In bestimmten Fällen war es möglich, dass Parteien durch mehr Zweitstimmen Sitze auf einer Landesliste verlieren oder durch weniger Zweitstimmen Sitze hinzugewinnen konnten. Das Gericht verpflichtete die Bundesregierung, das Problem zu lösen. Die Politik haderte lange mit einer Reform; den ersten Entwurf kassierten die Verfassungsrichter im Jahr 2011. Ein Jahr später konnte das neue Gesetz zwar ein negatives Stimmgewicht ausschließen, führte jedoch zu einer erheblichen Vergrößerung des Bundestages. Wäre bei der Bundestagswahl 2009 nach dem jetzigem Verfahren gewählt worden, wären schon damals 671 statt 622 Abgeordnete ins Parlament eingezogen (s. auch Wahlrechtsreform 2013 weiter unten auf dieser Seite).

Das Wahlgesetz hat viele Jahrzehnte funktioniert. Warum wurde eine neue Regelung notwendig?

Die ab 2002 geltende Regelgröße des Bundestags wurde bis einschließlich der Wahl des Jahres 2021 bei allen Bundestagswahlen überschritten. Vorrangig war dafür eine Ursache verantwortlich: Je mehr Parteien in den Bundestag einzogen und je ungleichmäßiger sich die Stimmen unter den Parteien aufteilten, desto eher kam es zu Überhangmandaten. Die Faustregel lautete: Wenn die stärkste Partei mehr als zehn Prozentpunkte vor der zweitstärksten lag, gewann die erste nahezu alle Direktmandate. Wenn sie aber gleichzeitig deutlich unter fünfzig Prozent der Zweitstimmen erreichte, waren mit dem alten Wahlrecht System viele Ausgleichsmandate notwendig.


Anteil an dieser Entwicklung hat die Ausdifferenzierung der bundesdeutschen Parteienlandschaft. Mit der „Alternative für Deutschland“ (AfD) zog 2017 die sechste Partei in den Bundestag ein. Nach der Gründung des Bündnis Sahra Wagenknecht, könnte der Bundestag künftig auf sieben Parteien anwachsen. Hinzu kommt: Die ehemals großen Volksparteien CDU/CSU und SPD gewinnen zwar weiterhin viele Direktmandate, aber ihre Zweitstimmenergebnisse gingen tendenziell zurück. Dass eine einzelne Partei bei künftigen Wahlen nochmals Ergebnisse von 40 Prozent oder mehr erreicht, erscheint unwahrscheinlich. Ohne die Reform des Wahlgesetzes wäre folglich eine weitere Vergrößerung des Bundestages zu erwarten gewesen. Unter bestimmten Konstellationen wären auf Grundlage des alten Wahlgesetzes von 2012 sogar eine Zahl von über 1000 Abgeordneten möglich gewesen.

Quelle: Joachim Behnke: Bundestag: Ende des Wachstums?, in: APuZ, Ausgabe 38, 2020.

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Warum ist ein großes Parlament ein Problem?

Natürlich könnte man einwenden, dass selbst ein Parlament mit knapp 1.000 Abgeordneten legitim wäre, solange es in der Lage ist, Gesetzesentwürfe abzustimmen und das Regierungshandeln kritisch zu hinterfragen. Doch sehen Kritiker:innen eine Reihe von Problemen, die mit einem „aufgeblähten“ Bundestag einhergehen.

Zum einen besteht die Gefahr, dass ein wesentlich größeres Parlament kaum mehr handlungs- und arbeitsfähig wäre. Je größer ein Parlament, desto schwieriger ist es, einen echten Diskurs zwischen den Parlamentariern zu organisieren, argumentiert etwa die Wissenschaftlerin Sophie Schönberger. Mehrheitsfindungen würden schwieriger oder unmöglich, das Parlament könnte ohne echte Willensbildung den Regierungsvorhaben stets die Zustimmung erklären. Hinzu kommt: Aus kleinen, effizient arbeitenden Ausschüssen könnten Gremien werden, die der Größe eines gesamten Landtags entsprechen. Das würde sich nicht nur auf die Arbeitsfähigkeit der Ausschüsse negativ auswirken, sondern auch auf die Dauer der Sitzungen, damit auf die Belastung der einzelnen Abgeordneten und nicht zuletzt auf das nötige Personal im Bundestag in der Verwaltung und in den Abgeordnetenbüros.

Hinzu kommen die steigenden Kosten für die Allgemeinheit. Der Bund der Steuerzahler plädierte bereits 2013 dafür, die Zahl der Abgeordneten auf 471 Mandate zu begrenzen und so etwa 100 Millionen Euro im Jahr zu sparen. Auch der Rechnungshof rügte immer wieder die Kosten für das größer werdende Parlament (Quelle: Deutschlandfunk).

Die Kritikpunkte liegen auf der Hand: Mit jeder und jedem zusätzlichen Abgeordneten steigen die Kosten für die Steuerzahler:innen und besteht die Gefahr, dass das Parlament als Herzkammer der Demokratie an Akzeptanz in der Bevölkerung verliert. Ohne eine Gesetzesänderung zur Begrenzung der Mandatsträger wäre der Vorwurf, Politikerinnen und Politiker nutzten die Lage, um sich persönlich zu bereichern wohl eher lauter geworden. Im September 2019 brachten über 100 Staatsrechtler:innen ihre „Sorge um das Ansehen der Demokratie“ in einem offenen Brief zum Ausdruck, sollte eine Wahlreform ausbleiben. Es entstehe der Eindruck, dass den Abgeordneten „das eigene Hemd wichtiger sei als der Gemeinwohlrock“, schrieben sie damals.

Quelle: Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Verfassungsrechtliche Bewertung des Wahlrechtsreform, 2020

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Woran scheiterten vorherige Reformversuche?

Die Antwort auf die Frage ist einfach: Wahlrechtsfragen sind Machtfragen — und die Parteien konnten sich lange Zeit auf keinen gemeinsamen Entwurf für eine durchgreifende Wahlrechtsreform einigen. Der Hauptkonflikt: Wollte man das System grundsätzlich überarbeiten, gehen manche der bisherigen Vorzüge der personalisierten Verhältniswahl verloren. Entweder kommen nicht alle Gewinner:innen eines Direktmandates automatisch in den Bundestag oder das Zweitstimmenergebnis wird verzerrt.

Während die Unionsparteien die Bedeutung von Direktmandaten betonen, plädieren andere Parteien für eine Zusammenlegung vieler Wahlkreise und damit für die Absenkung der Zahl an Direktmandaten. Die Kritiker:innen erwidern jedoch: Dadurch würden die Wahlkreise so groß, dass eine angemessene Repräsentation durch Abgeordnete nicht mehr möglich sei. Gerade in Flächenländern bestünde die Gefahr, dass der Kontakt zwischen Bürgerinnen und Bürgern und ihren Abgeordneten nicht mehr intensiv gepflegt werden könne.

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Bereits im Jahr 2013 kam es zu einer Reform des Bundestagswahlrechts, um das Problem des so genannten „negativen Stimmgewichts" zu beseitigen. Unsere Übersicht zeigt, was darunter genau zu verstehen ist.

Warum wurde 2013 das Bundestagswahlrecht reformiert?

Die Bundestagswahlen am 22. September 2013 waren die ersten, die nach einem reformierten Wahlrecht stattfanden. Das Bundesverfassungsgericht hatte das vorher bestehende Wahlrecht als verfassungswidrig beurteilt: In bestimmten Fällen trat nämlich ein „negatives Stimmgewicht" auf (Quelle: Bundesverfassungsgericht). Das hieß, dass ein „Mehr an Zweitstimmen für eine Partei in bestimmten Konstellationen ein Weniger an Sitzen im Bundestag bedeuten konnte und umgekehrt ein Weniger an Zweitstimmen ein Mehr an Sitzen“ (Quelle: Bundestag: Das neue Wahlrecht).

Das Ziel der Wahlrechtsreform bestand darin, das erneute Auftreten eines negativen Stimmgewichtes zu verhindern. Das erreichte der Gesetzgeber, indem das Verfahren zur Umrechnung von Wähler:innenstimmen in Abgeordnetenmandate verändert wurde. Seit der Wahlrechtsreform von 2013 profitiert eine Partei nicht mehr von Überhangmandaten, da diese durch so genannte Ausgleichsmandate für die anderen Partei ausgeglichen werden.

Was bedeutet „negatives Stimmgewicht"?

Was bedeutet „negatives Stimmgewicht"?

Unter dem „negativen Stimmgewicht“ verstand man einen paradoxen Effekt, der bei Bundestagswahlen vor 2013 auftreten konnte und durch die Wahlrechtsreform von 2013 als abgeschafft gilt.

Der Effekt des so genannten negativen Stimmgewichts bedeutet, dass eine geringere Zahl von Zweitstimmen für eine Partei günstiger sein kann, wenn sie in einem Land mehr Direkt- als Listenmandate gewinnt. Dieses Phänomen kam durch die bisherige Verrechnung von Erst- und Zweitstimmenmandaten im Bundeswahlrecht zustande und war einer der Gründe, weshalb das Bundesverfassungsgericht das Wahlrecht 2008 und 2012 für verfassungswidrig erklärt hat. Das neue Wahlrecht von 2013 verhindert diesen Effekt.

Das negative Stimmgewicht ergibt sich aus der Kombination zweier Phänomene: Auf der einen Seite gibt es die Überhangmandate. Sie können durch das Zwei-Stimmen-System entstehen, das es in Deutschland gibt. Die Erststimme geht an den Wahlkreiskandidaten, die Zweitstimme an die Partei. Überhangmandate entstehen, wenn eine Partei mit Hilfe der Erststimmen viele Direktmandate erringt – und zwar mehr, als ihr an sich Sitze in dem Land nach der Zahl der Zweitstimmen zustehen würden. Die Partei bekam also mehr Erst- als Zweitstimmen. Jedem direkt gewählten Politiker steht ein Sitz im Bundestag zu, unabhängig von den Zweitstimmen. Diese Sitze, die den Prozentsatz der Zweitstimmen eigentlich übersteigen, heißen Überhangsmandate.

Das zweite Phänomen ist weniger bekannt: Die Landeslisten einer Partei galten als verbunden. Das sollte verhindern, dass in jedem Land all die Stimmen unter den Tisch fallen, die kein ganzes Mandat ergeben. Deshalb wurde im Rahmen der so genannte Oberverteilung zunächst ermittelt, wie viele Sitze eine Partei bundesweit erlangt hat. Dieses Sitzkontingent wurde sodann auf die einzelnen Landeslisten verteilt.

Diese so genannte Unterverteilung konnte in Kombination mit dem Phänomen der Überhangmandate den paradoxen Effekt eines negativen Stimmgewichts nach sich ziehen: Zusätzliche Zweitstimmen für eine Partei, die sich aufgrund von Überhangmandaten in einem Land nicht sitzerhöhend auswirkten, konnten dazu führen, dass derselben Partei in der Unterverteilung in einem anderen Land weniger Listenmandate zugeteilt wurden. Der Zweitstimmenzuwachs einer Partei in einem Land konnte also bundesweit einen Sitzverlust zur Folge haben. Umgekehrt konnte ein niedrigeres Zweitstimmenergebnis in einem Land dazu führen, dass die betroffene Partei bundesweit durch die geringere Stimmenanzahl einen Sitz hinzugewann.

Wie kam es zur Wahlrechtsreform 2013?

Wie kam es zur Wahlrechtsreform 2013?

2005: Bundestagwahlen: Der Tod einer NPD-Bundestagskandidatin kurz vor der Wahl führte dazu, dass die Abstimmung im Wahlkreis 160 (Dresden I) erst zwei Wochen nach dem regulären Termin stattfand. Das lenkte die öffentliche Aufmerksamkeit auf das Phänomen des „negativen Stimmgewichts“: Wenn die CDU bei den Nachwahlen mehr als eine bestimmte Zahl von Zweitstimmen erhalten hätte, hätte sie auf Bundesebene insgesamt ein Mandat verloren. Dieses Ergebnis trat zwar nicht ein, trotzdem wurden die Dresdner Nachwahlen zum Anlass für eine Wahlrechtsreform.

2008: Urteil des Bundesverfassungsgerichtes: Die Karlsruher Richter urteilen am 3. Juli 2008, dass die Regelungen des Bundeswahlgesetzes, aus denen sich der Effekt des negativen Stimmgewichts ergibt, verfassungswidrig seien. Dadurch werde die Gleichheit der Wahl verletzt. Der Gesetzgeber erhielt drei Jahre Zeit, das Wahlrecht zu korrigieren.

2011: Schwarz-Gelb verabschieden Wahlrechtsreform: Weil sich die Bundestags-Fraktionen nicht auf eine Reform einigen konnten, beschließen die Regierungsfraktionen CDU/CSU und FDP eine Wahlrechtsreform. Ihr Kern besteht darin, dass die einzelnen Bundesländer die Abgeordneten für den Bundestag getrennt wählen. Überhangmandate können weiterhin entstehen.

2012: 2. Urteil des Bundesverfassungsgerichtes: Das 2011 reformierte Wahlrecht sei weiterhin verfassungswidrig, urteilen die Karlsruher Richter am 25. Juli 2012. Das Problem des negativen Stimmgewichts bestehe weiterhin. Die Möglichkeit vieler Überhangmandate würde das Verhältniswahlrecht verzerren.

2013: Erneute Wahlrechtsreform: Wenige Monate vor den Bundestagswahlen beschließen die Fraktionen von CDU/CSU, SPD, FDP und Grüne eine erneute Reform des Wahlrechts. Ihr Kern besteht darin, dass Überhangmandate ihre Bedeutung verlieren, weil diese mit Ausgleichsmandaten für die anderen Parteien ausgeglichen werden. Kritiker:innen befürchten, dass das neue Berechnungsverfahren zu einem aufgeblähten Bundestag mit bis zu 800 Abgeordneten führen könnte.

2013: 1. Bundestagswahlen nach neuem Wahlrecht: Das neue Berechnungsverfahren führt dazu, dass 631 Abgeordnete in den neuen Bundestag einziehen. Die reguläre Mindestsitzzahl beträgt 598 Abgeordnete, dazu kommen nach den Berechnungen des neuen Wahlrechts noch vier Überhangmandate und 29 Ausgleichsmandate.

Quellen

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Letzte Aktualisierung: November 2024, Internetredaktion LpB BW

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